BRÜCKE Sonderausgabe: „KKY -Sachbericht“, März 2024

BRÜCKE – für ein gleichberechtigtes und friedliches Zusammenleben         

(Hrsg.: Anatolisches Bildungs- und Beratungszentrum e.V., Marschstr. 34, 28309 Bremen, gemeinnützig anerkannt. Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband Bremen und im Paritätischen Bildungswerk Bremen. Mobil: 0152 – 02955320; rahmituncer@web.de; www.anadolu-bremen.de)

KKY Sachbericht – März 2024

In der Projektzeit vom 01.06.2020 – 30.04.2024 wurden folgende Selbsthilfegruppen aufgebaut:

Seniorengruppe für ältere Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf – jeden Donnerstag 13.30 bis 17.30 Uhr (in der Bultstr. und Christernstr. im Begegnungszentrum Hemelingen) – Zahl der Teilnehmerinnen, je nach Gesprächsthemen, sehr unterschiedlich (z.B. bei Pflegegesprächen bis zu 15 Personen).

Frauennähgruppe (Frauen mit psychischer Erkrankung und Stress-symptomen). Jeden Montag ab 18.00 Uhr (Bultstr. und Christernstr. im Begegnungszentrum Hemelingen) – Zahl der Teilnehmerinnen sehr unterschiedlich – 10 feste Teilnehmerinnen.

Frauenchor (Frauen mit psychischer Erkrankung und Stresssymptomen).

Jeden Freitag ab 18.00 Uhr (Bultstr. und Christernstr. im Begegnungszentrum Hemelingen) – Zahl der Teilnehmerinnen sehr unterschiedlich – 10 feste Teilnehmerinnen.

Junge Erwachsene mit Suchtproblemen (z.B. Alkohol und Gewalt) jeden Freitag ab 20.00 Uhr (in der Bultstr. nach Aufgabe des Vereinsraum in privaten Räumen) – Zahl der Teilnehmer bis zu 6 Personen.

Im Folgenden möchten wir eine Analyse hinsichtlich der Selbsthilfearbeit der Senioren- und Frauengruppe ausarbeiten. Dabei geht es nicht nur, um die Aktivitäten der Seniorengruppe in der Projektzeit, sondern auch, um die Problembereiche in den oben genannten Selbsthilfegruppen zusammenfassend darzustellen.

Bei der Mitgliedergewinnung der interkulturellen Selbsthilfegruppen, spielte die Zeitschrift „BRÜCKE“ (herausgeben von unserem Verein in Deutsch und Türkisch) eine entscheidende Rolle. In der Sonderausgabe vom September 2020 gab es einen Text über die Bedeutung der Gründung von Selbsthilfegruppen. Dadurch konnten u.a. auch Mitglieder aus anderen Stadtteilen wie Walle und Huckelriede gewonnen werden. Nach unserer Meinung sollte der oben erwähnte Text aus der BRÜCKE mit weiteren Informationen hinsichtlich der Notwendigkeit der Selbsthilfegruppen im Gesundheitsbereich und der Vorstellung der Einheimischen Selbsthilfegruppen und ihrer inhaltlichen Themen erneut veröffentlicht werden. Ziel soll sein, nicht nur den Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund Informationen zur Verfügung zu stellen, sondern „ausländische“ und einheimische Selbsthilfegruppen näher zueinander zu bringen und Gemeinsames zu unternehmen.

Zu den inhaltlichen Aktivitäten der Selbsthilfegruppen und zur zukünftigen Gestaltung:

In der Projektzeit hat sich die Seniorenselbsthilfegruppe mit wichtigen altersspezifischen und gesundheitsbezogen Themen befasst: Pflege, Schwerbehinderung, sozialmedizinische gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes usw. Außerdem hat sie Aktivitäten wie gemeinsame Ausflüge, Feste usw. untereinander organisiert.

Alle einheimischen Beratungsstellen bzw. Selbsthilfegruppen haben sehr tolle Angebote; sie setzen sich mit sehr vielen nützlichen Themen auseinander. All dies aber ist den Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen kaum bekannt. Es gibt viele verschiedene Gründe dafür. Zum einen sind die Informationsflyer, die in den Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen zu finden sind, auf einem sehr hohem Sprachniveau, sodass Menschen mit Migrationshintergrund gravierende Schwierigkeiten haben, sie zu verstehen. Sie sind nicht zielgruppengerichtet verfasst. Die Flyer werden von Fachkräften und Menschen, die mindestens eine allgemeine Hochschulreife haben, verstanden. Wir haben es aber (abgesehen von einem kleinen Anteil der Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge) überwiegend mit Menschen zu tun – wie z. B. in unserer Seniorenselbsthilfegruppe – deren TeilnehmerInnen einen Grund- und / oder Hauptabschluss haben. Sie sind meist als sogenannte GastarbeiterInnen von Mitte bis Ende der 60er Jahre und Anfang der 70er Jahre nach Deutschland eingewandert. Sie haben leider kaum Erfahrungen bezüglich Selbsthilfegruppen im Gesundheitssektor aus ihren Herkunftsländern mitgebracht (dies gilt auch für viele andere Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge aus anderen Herkunftsländern). Denn die Entwicklung bzw. Entstehung der Selbsthilfegruppen hat u.a. mit dem politischen Aufbau des Staates bzw. mit der Demokratie zu tun. In der Türkei beispielsweise kam es vereinzelt aufgrund der „Demokratisierungsprozesse“ erst in den 70er Jahren unter der Bevölkerung zur Gründung von Selbsthilfegruppen im Gesundheitssektor. Dies fand zunächst nur in den wirtschaftlich entwickelten Großstädten der Türkei (Istanbul, Ankara, Izmir etc.) statt. Erst in den 80er Jahren konnten sich vermehrt viele Selbsthilfegruppen in einigen anderen Gegenden der Türkei entwickeln. Heutzutage findet man vermehrt Selbsthilfegruppen, wobei es immer noch eher in der Stadt verbreitet ist als in ländlichen Gegenden. Fast alle werden aber von einer professionellen Fachkraft gelenkt und geleitet.

Als die sogenannte Gastarbeitergeneration in den 60ern aus der Türkei nach Deutschland kam, hatten sie keine Erfahrung hinsichtlich Selbsthilfearbeit im Gesundheitssektor. Es gab viele Gründe dafür. Beispielsweise hatten einige erstmaligen Kontakt zu einem Arzt durch die Gesundheitsprüfungen der Anwerbungsbüros der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul, Izmir, Ankara usw. Viele hatten keine Hausärzte in ihrer Heimat. Auch in Deutschland war die Selbsthilfearbeit im Gesundheitssektor zu der Zeit nicht viel verbreitet. Erst ab den 2000er Jahren kam es vermehrt zur Gründung von Selbsthilfegruppen im Gesundheitssektor.

Nachdem sie (GastarbeiterInnen aus der Türkei) in Deutschland angekommen sind, haben sie untereinander Selbsthilfearbeit geleistet; sowohl im gesellschaftlichem als auch im politischen Bereich. Zu dem Zeitpunkt haben sie sich aber nicht als Selbsthilfegruppe bezeichnet. Zum Beispiel haben sie sich u.a. dabei geholfen Anträge auf die Erteilung des Aufenthaltes bei der Ausländerbehörde zu stellen oder auch Anträge auf eine Arbeitserlaubnis beim Arbeitsamt.

Es ist unserer Seniorenselbsthilfegruppe leider in der Projektzeit nicht gelungen (und generell ist es sehr schwer für ausländische Selbsthilfegruppen) zu den einheimischen Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen Kontakt aufzubauen. Eine Ausnahme ist in dieser Hinsicht für unsere Seniorenselbsthilfegruppe die Kooperation mit der Evangelischen Kirchengemeinde Begegnungszentrum in der Christernstraße im Stadtteil Hemelingen. Mit dem Begegnungszentrum hat es z.B. nicht nur gemeinsame Feiern anlässlich der religiösen Tage im Islam und Christentum gegeben, sondern die Seniorengruppe wurde auch zu einem festen Teil der alljährlich stattfindenden Aktionswoche „Senioren in Hemelingen“ im Stadtteil Hemelingen. Auch für 2024 ist die Gruppe an Planungen für die Seniorenwoche in Hemelingen eingebunden.

Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass es für die Zusammenarbeit zwischen einheimischen und migrantischen Selbsthilfegruppen wichtig ist, dass man innerhalb der Gruppe eine Ansprechpartnerin, einen Ansprechpartner mit leitender Funktion hat, die bzw. der zu einer Begleitlotsin, einem Begleitlotsen für interkulturelle Selbsthilfegruppen ausbildet. Das ist der Punkt, an dem sich die Selbsthilfearbeit der Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge von denen der Einheimischen unterscheidet. In der Selbsthilfearbeit der Einheimischen gibt es keine Ansprechpartner. Im Laufe der Zeit entwickelt sich vielmehr eine Gruppendynamik bei den Einheimischen. Trotzdem ist es wichtig, dass eine Person innerhalb der Gruppe Organisatorisches übernimmt, Gesprächsthemen einleitet und informiert.

Wichtig für die „interkulturellen Begleitlotsen“ wäre es, dass diese eine kompetente Schnittstelle zwischen deutschen Organisationen/Vereinen und migrantischen Selbsthilfegruppen bildet. Er/Sie muss die Informationen in der Muttersprache der Selbsthilfegruppe weitergeben können, damit keine sprachlichen Barrieren entstehen. 

Auch wenn die Seniorinnen und Senioren sich im Alltag problemlos in der deutschen Sprache verständigen können, können sie aber mit wissenschaftlichen Fachbegriffen und Texten nichts anfangen bzw. diese nicht verstehen. Das haben wir besonders in der Projektzeit erfahren können. Denn als wir uns im Verein mit den Seniorinnen über ihre gesundheitlichen Behandlungen in Krankenhäusern, bei Ärzten usw. unterhalten haben, ist herausgekommen, dass sie sich mit Ärzten hinsichtlich ihrer Behandlung nicht ohne Dolmetscher verständigen können. Sie können auch viele Formulare, die bei den Krankenhäusern und Arztpraxen hinsichtlich der medizinischen Behandlung ausgefüllt werden, ohne Dolmetscher nicht verstehen und ausfüllen. Deswegen ist aus der Gruppe die Idee entstanden, ein Wörterbuch für medizinische Begriffe anzufertigen. Das Wörterbuch wurde nicht nur von Seniorinnen und Senioren mit großer Begeisterung in Anspruch genommen, sondern auch von vielen Institutionen, Ämtern, Beratungsstellen, aber auch von hunderten Einzelpersonen im gesamten norddeutschen Raum. Ohne die finanzielle Unterstützung der Krankenkasse AOK, aber auch ohne die ideelle Unterstützung der Seniorenselbsthilfe-, Frauennäh- und Chorgruppe unseres Vereins, wäre dies nicht möglich gewesen. Das Wörterbuch erzielte große Erfolge. Ebenfalls ist auch die Zusammenarbeit der Seniorenselbsthilfegruppe und Frauenselbsthilfegruppe hinsichtlich der Herausgabe des interkulturellen und interreligiösen Kalenders für 2023 mit dem Vorstand des Vereins hervorzuheben. Denn ohne deren Mitarbeit wäre man bei der Herausgabe des Kalenders nicht in der Lage, bestimmte religiöse Tage genau zu recherchieren. Religiöse Tage spielen im täglichen Leben älterer Menschen eine entscheidende Rolle.

Weitere Projektinhalte wurden z. B. auch während der Corona-Pandemie durchgeführt. Die Selbsthilfegruppen organisierten gegenseitige nachbar-schaftliche Hilfen zur Informationsbeschaffung hinsichtlich Corona, die Organisation von Einkäufen für chronisch erkrankte Seniorinnen und Senioren usw.

Eines der wichtigsten Punkte in Laufe unserer Projektzeit war die sprachlichen Barrieren: es ist enorm wichtig zu berücksichtigen, dass mehrsprachiges Informationsmaterial und mehrsprachige AnsprechpartnerInnen entscheidend sind, um eine gelungene Selbsthilfearbeit zu leisten.

Selbsthilfegruppen müssen nicht in der deutschen Sprache stattfinden, sollten sogar in der eigenen Muttersprache erfolgen, wobei da natürlich auch die Zusammensetzung der Gruppe und das Alter eine gewisse Rolle spielt. Wichtig ist es, eine Ansprechperson innerhalb der Gruppe zu haben, die eine leitende Funktion darstellt und als eine Begleitlotsin, ein Begleitlotse für interkulturelle Selbsthilfegruppen gilt. Sie/er sollte gute Deutschkenntnisse aufweisen, um z.B. Türen für eine Zusammenarbeit zu den einheimischen Gruppen öffnen zu können.  Diese Ansprechperson sollte auch in folgenden Themenbereichen geschult sein, um sich in der Selbsthilfegruppe betätigen zu können.

Schulungsinhalte könnten z.B. sein:

  1. Kenntnisse über vor Ort existierende einheimische Selbsthilfegruppen
  2. interkulturelle Kenntnisse
  3. Kenntnisse über das Aufenthalts- und Asylrecht
  4. Kenntnisse über alltagsrelevante Themen, die besonders Seniorinnen und Senioren betreffen und wie man diese Themen zielgruppengerecht vermittelt, wie beispielsweise:
  5. der richtige Umgang mit dem Handy und wichtige Funktionen des Handys,
  6. Umgang mit dem PC/Tablet und Nutzung des Internets und nützlichen Apps.

Wir leben aber in einer Zeit, in der die Digitalisierung immer mehr an Bedeutung gewinnt. Zum Beispiel müssen Arzttermine über eine App gebucht werden. Vieles läuft im Alltag digital ab. Wir haben gemerkt, dass es zu diesen Themen ein großes Interesse in den Selbsthilfegruppen gibt, denn Nichtwissen bedeutet eine Einschränkung der sozialen Teilhabe.

  • Kenntnisse über den Umgang mit Krankheitsbildern im Vergleich zu den Einheimischen, wichtig ist hier der religiöse Aspekt
  • Hilfe bei der Öffnung der Seniorenselbsthilfegruppen zu den einheimischen Selbsthilfegruppen durch die Bekanntmachung bestimmter internationaler und nationaler Gedenk- und Feiertage

Wir sind überzeugt, dass durch die Schulung einer Ansprechperson (leitende Kraft) als „Begleitungslotsin oder -lotse für interkulturelle Selbsthilfegruppen“ es zur Weiterentwicklung der Selbsthilfegruppen kommen kann, wodurch auch die Zusammenarbeit von einheimischen und migrantischen Selbsthilfegruppen generiert wird.

Rahmi Tuncer                        Sema Toraman                     Dilara Tuncer                       

März 2024   

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